Die neue Zeitrechnung

Artikel in der ZEIT 06/2003

Von Martin Spiewak

Nicht alle Lehrer arbeiten gleich viel: Deutsch erfordert mehr Aufwand als Sport. Ein neues Arbeitszeitmodell soll die Schieflage ausgleichen.

Im Studium hatte die Hülsmanns niemand gewarnt. Heute müssen sie sich schon einmal von Kollegen sagen lassen, sie hätten ja auch andere Fächer belegen können. Englisch hätte doch gereicht. Warum musste es daneben auch noch Französisch sein? Zwei Sprachen, zweimal intensive Unterrichtsvorbereitungen, zweimal jedes Halbjahr Hunderte Klassenarbeiten durchsehen. „Und dann ist man oft noch Klassenlehrer“, sagt Ulrike Hülsmann. „Wir unterrichten schließlich die meisten Stunden in einer Klasse.“ 

Ulrike und Heiner Hülsmann, Lehrer an zwei verschiedenen Duisburger Gymnasien, bereuen ihre Studienwahl auch nach 30 Jahren nicht, sagen sie. Groll und Neid auf Kollegen, die wesentlich weniger arbeiten müssen, sind jedoch von Jahr zu Jahr gestiegen. „Während wir bis zum späten Abend Hefte korrigieren, haben einige Kollegen bereits am Nachmittag frei“, klagt Heiner Hülsmann. 

Denn wer Sport oder Kunst unterrichtet, muss selten nach der Schule noch am Schreibtisch sitzen. Auch in Erdkunde oder Geschichte fallen weniger aufwändige Klausuren an als in Korrekturfächern wie Englisch oder Deutsch. „Völlig willkürlich“ sei die Arbeit in den deutschen Schulen verteilt, klagt Hülsmann, weil allen Lehrern einer Schulform dieselbe Zahl Unterrichtsstunden auferlegt würden – egal, welches Fach sie unterrichteten. 

Irgendwann hatte der 52-Jährige „die Nase voll“ und machte, was man in Deutschland in so einem Fall gern macht: einen Verein gründen und klagen. In drei Prozessen will die Vereinigung der Korrekturfachlehrer in Nordrhein-Westfalen das Düsseldorfer Schulministerium zwingen, die Zahl ihrer Pflichtstunden zu verringern. Zwei Verfahren haben die Kläger bereits verloren. Die Begründung der Richter: Die Lehrerarbeit nach Fächern und Aufgaben individuell zu berechnen sei zu kompliziert. 

In Hamburger Schulen soll nun das Gegenteil bewiesen werden. Wird wahr, was eine von der Schulbehörde der Hansestadt eingesetzte Kommission in Kürze in ihrem Abschlussbericht vorschlagen wird, käme es zu einer gigantischen Umverteilung der Arbeit in vielen Hamburger Lehrerkollegien. Kern der Empfehlung: Die 45-Minutenstunde, der Goldstandard der deutschen Pädagogenarbeit seit dem 19. Jahrhundert, wird als Berechnungsgrundlage aufgehoben. 

Stattdessen regen die Experten an, die Aufgaben für jeden Lehrer individuell so zu kalkulieren, dass am Ende für alle potenziell die gleiche Arbeitszeit herauskommt. Rechnet man die zusätzlichen Ferien der Lehrer an, sollten das pro Woche 46,5 Stunden sein. 

1 Deutschstunde = 102 Minuten

Gerechter, transparenter und effizienter soll das neue Modell sein, verspricht der Leiter der Hamburger Arbeitszeitkommission, Reiner Schmitz. Es sieht für jede Unterrichtsstunde – differenziert nach Fach, Schulform und Klassenstufe – einen so genannten Zeitwert vor. Dieser enthält neben den 45 Minuten Unterricht vor der Klasse den Aufwand für Stundenvorbereitung und Hausaufgabenkontrollen, für Klausuren und Notengebung. So bekommt zum Beispiel, wer in der achten Klasse am Gymnasium Deutsch unterrichtet, 102 Minuten auf sein Zeitkonto gutgeschrieben, der Sportkollege derselben Klasse nur 75 Minuten. 

Darüber hinaus honoriert die neue Hamburger Zeitrechnung jene Pädagogen, die sich auch außerhalb des Unterrichts engagieren. Immer wieder gebe es Lehrer, die sich vor Gemeinschaftsaufgaben drückten, beklagt Kommissionsmitglied Wiebke Koch-Gimpel, die ein Gymnasium in Hamburg-Langenhorn leitet. Andere Kollegen dagegen pflegen die Homepage des Gymnasiums, schreiben mit am Schulprogramm oder organisieren den Chor. „Heute kann ich sie nur mit lobenden Worten belohnen“, kritisiert Koch-Gimpel. Langfristig sei das zu wenig. 

Das gibt Krach im Lehrerzimmer Mehr Geld wird es auch in Zukunft für die Aktivposten im Kollegium nicht geben, dafür aber mehr Zeit. Die Leitung einer Klasse schlägt mit zwei bis drei Stunden pro Woche zu Buche; wer für das Kollegium neue Lernkonzepte erstellt, bekommt eine Stunde angerechnet. Zudem werden alle Pädagogen zu 30 Fortbildungsstunden im Jahr verpflichtet. Gerade die Schulentwicklung gewinne stetig an Bedeutung, sagt der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm. 

Habe sich doch gezeigt, dass die Qualität einer Schule stark davon abhängt, was das Lehrerkollegium außerhalb ihrer Pflichtstunden gemeinsam erarbeitet. Wie ungerecht die Arbeit in deutschen Lehrerkollegien verteilt ist, haben viele Studien belegt. Für die größte Erhebung ließen Unternehmensberater der Firma Mummert und Partner mehrere tausend Lehrer in Nordrhein-Westfalen ihre Arbeitszeiten bis auf die Minute notieren. Zur Kontrolle musste ein Teil der Pädagogen alle 20 Minuten ein Messgerät drücken, den so genannten Lehrer-Tamagotchi. Die Unterschiede waren enorm: Während einige Schulmeister die 30-Stunden-Woche verwirklicht hatten, saßen andere Kollegen über 60 Stunden über Heften und Büchern. 

Der faulste Lehrer der Untersuchung kam auf 930 Arbeitsstunden im Jahr, der fleißigste Kollege auf 3562. Auch ein weiteres Ergebnis überraschte in seiner Deutlichkeit: Im Durchschnitt nahm die Zeit, die der Lehrer vor der Klasse steht, nur ein gutes Drittel seiner Arbeitszeit in Anspruch. Mehr als ein weiteres Drittel der Zeit fressen die Unterrichtsvor- und -nachbereitungen, insbesondere die Korrekturen. Lässt Heiner Hülsmann in seinem Englisch-Leistungskurs zum Beispiel eine Klausur schreiben, dann benötigt er für die Durchsicht der bis zu zehn Seiten langen Aufsätze insgesamt über 40 Stunden. „Wenn Sie viele Laberköpfe im Kurs haben, dauert es noch länger“, stöhnt der Duisburger Lehrer. 

Die Lehrergewerkschaften wollen von einer gerechteren Verteilung der Arbeit wenig wissen. Sie fordern weniger Unterricht für alle ihre Mitglieder. Auch die Schulleiter wahren lieber den Frieden im Lehrerzimmer, statt die Mehrarbeit engagierter Pädagogen auszugleichen. Auch solche zeitintensiven Belastungen berücksichtigt das Hamburger Modell: So bekommt ein Biologielehrer in der fünften Klasse 84 Minuten angerechnet, in der Oberstufe dagegen 102. 

Ein spezielles Computerprogramm soll den Hamburger Schulen ermöglichen, die Arbeit nach dem neuen Schlüssel auf das Kollegium zu verteilen. Kommissionsleiter Schmitz sieht denn auch weniger praktische als prinzipielle Probleme, den Reformvorschlag umzusetzen. „Es wird Sieger und Verlierer geben. Darin steckt Zündstoff“, prophezeit der Hamburger Schuldezernent. Auch Schulleiterin Koch-Gimpel sieht Konflikte im Kollegium voraus, wenn einige Lehrer entlastet werden, während andere plötzlich mehr unterrichten müssen. 

Zusätzliche Pädagogenstellen nämlich wird es in Hamburg keine geben. Vielmehr mussten die Experten ihren Entwurf so kalkulieren, dass in den nächsten Jahren rund drei Prozent der Stellen eingespart werden können. Die Lücken müssen jene füllen, die unter dem alten Modell profitierten. „Das belastet die Kameradschaft“, fürchtet Wiebke Koch-Gimpel. 

Die Angst vor einer Störung des Betriebsfriedens dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass bisherige Versuche, die Lehrerarbeit fairer zuzuschneiden, scheiterten. In Nordrhein-Westfalen können Schulleiter überlasteten Lehrern bis zu drei Unterrichtsstunden pro Woche erlassen – solange die Kollegen ihre Arbeit übernehmen. Doch kaum eine Schule macht von der Möglichkeit Gebrauch. „Die Ruhe im Kollegium ist den meisten Lehrern wichtiger als Gerechtigkeit“, sagt Bildungsforscher Klemm. 

Auch die Lehrergewerkschaften wollten von einem fairen Zuschnitt der Arbeit wenig wissen. Sie rufen nach weniger Unterricht für alle ihre Mitglieder, nicht nur für einige. Dabei belegte die nordrhein-westfälische Erhebung, dass die Unterrichtsbeamten zwar insgesamt gesehen nicht faul sind. Im Schnitt arbeiten sie jedoch auch nicht viel mehr als der Rest des öffentlichen Dienstes. „Dass ein Lehrer nicht exakt auf dieselbe Stundenzahl kommt wie ein Müllmann oder Postbote, finde ich nicht dramatisch“, so Lehrerexperte Klemm. Auch für einen Richter, Kriminalkommissar oder leitenden Angestellten in der Finanzverwaltung sind ein paar unbezahlte Überstunden nichts Ungewöhnliches. 

Auf noch größeren Widerstand in den Kollegien treffen Vorschläge, die Anwesenheit der Lehrer in der Schule zu verlängern. In vielen Ländern verlassen die Pädagogen ihren Arbeitsplatz erst am späten Nachmittag. Bis dahin sind sie für Schüler und Eltern in der Schule ansprechbar, wo sie in der Regel auch ihren Unterricht vorbereiten. Als junge Mitglieder der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) 1999 in der „Gothaer Erklärung“ längere Präsenzzeiten und gar ein gemeinsames Arbeiten auch während der Ferien vorschlugen, stießen sie damit auf wenig Gegenliebe bei den älteren Verbandskollegen. 

Dabei würde eine Neuordnung der Lehrerarbeit dem angeschlagenen Image der Pädagogen durchaus nützen. „Wenn die Öffentlichkeit versteht, dass Schule für einen Lehrer mehr ist als zu unterrichten“, hofft die Hamburger Schulleiterin Wiebke Koch-Gimpel, „ist endlich Schluss mit dem Gerede vom Halbtagsjob.“

siehe auch: http://www.zeit.de/2003/06/B-Lehrerarbeitszeit

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